Europas Seele ist die Toleranz 2015

Eine kritische Betrachtung aus deutsch-französisch-russischer Perspektive

Projektarbeit des Berufskollegs Eschweiler der StädteRegion Aachen und der Pskover Staatlichen Universität in Pskov

vom 17. bis 24. April 2015

von Thomas Gurdon

Freitag, 17. April 2015

Die Anreise war beschwerlich. Die Fahrt nach Düsseldorf ein Klacks. Der Flughafen professionell. Der Flug mit 2:30 Stunden noch erträglich. Der Flughafen St. Petersburg ist eine riesige Baustelle. Alles ändert sich und wird erweitert.

Der Bus wartete auf uns. Nicht neu, aber gut. 266 km sollten wir in 4 - 5 Stunden bewältigen. Es wurden 5, da eine (!) Baustelle uns über 1 Stunde kostete. Das gibt es bei uns auch, aber dafür gibt es hier einzigartige Schlaglöcher. Die Straße durch schönste Wälder bleibt ein Alptraum.

Das Studentenwohnheim sieht aus wie in den 70er Jahren. Sauber, aber sehr, sehr einfach. Die Schüler sind in Familien und wurden sehr, sehr freundlich begrüßt und haben sich gefreut, „ihre“ Gastschüler wieder zusehen. Dafür machen wir das.

Samstag, 18. April 2015

Heute Morgen waren wir zunächst Geld wechseln. Dazu langes Laufen durch die Stadt zu einer von vielen Banken. Danach fuhren wir nach Isborsk zu einer alten Festung: Groß, schön, mit heiligen Quellen – alles gut restauriert und SEHR SEHR kalt mit Schneeregen. Kurzum: Wir haben fürchterlich gefroren. Von dort ging es zu Fuß weiter in ein Lokal mit leckerem russischen Essen: In kleinen Tontöpfen gegarte Kartoffeln mit Fleisch und Sauerrahm. Lecker, auch wenn wir nach der Kälte ALLES gegessen hätten, das warm gewesen wäre.

Danach ging es nach Petschory zu einem Orthodoxen Kloster, das wirklich sehr beeindruckend war. Viel Gold und Farben.

Mittlerweile war das Wetter sonnig und mindestens 15 Grad wärmer (gefühlt also jetzt 5° C.) Die Landschaft sah aus wie in Filmen aus Kanada. Große Weiten, viele Wälder, noch nicht wirklich grün. Wie wir später erfuhren, sollte das Kloster unter Chrustchow geschlossen werden, während Stalin im Krieg Kirchen eröffnen ließ, um deren Unterstützung zu erfahren. Die kriegserfahrenen Mönche drohten aber mit bewaffnetem Widerstand und Kampf auch in der ausländischen Presse, so dass dieser Plan nicht umgesetzt wurde. Andere Klöster wurden geschlossen, aber die hatten auch kein Waffenarsenal und dicke Mauern.

Dann noch ein Besuch im Supermarkt, in dem es vieles aus der EU zu kaufen gibt, was NICHT unter das Embargo fällt.

Sonntag, 19. April 2015

Heute stand eine Stadtführung durch Pskov auf dem Programm. Pskov ist sehr schön – im Sommer, bei 20° C. – bestimmt! Bei 3° C und Schnee und Regen mit viel Wind ist diese Schönheit verborgen. Die Denkmäler und Plätze, der Kreml und die Gebäude verlieren ihren Charme beim Zittern. Eine Kirche im Kreml mit einer ca. 30 Meter hohen Wand voller Ikonen war dennoch sehr beeindruckend. Ein großer Markt aus ca. 200 Metallcontainern (6 – 10 m² groß) bot alle möglichen Anziehsachen, Schuhe, Autoersatzteile etc. Der Lebensmittelmarkt lag separat. Hundewelpen wurden dazwischen aus Autos heraus verkauft.

Geführt wurden wir von 2 Studentinnen der Uni, die Deutsch lernten und entsprechend gut waren.

Das anschließende Essen in einem traditionellen Lokal war lecker. Der Renner war aber die Toilette. Eine „goldene Toilette“ – mitten in Russland. Wohl überall ein Unikum.

Montag, 20. April 2015

Das Wetter war wie versprochen, kalt und regnerisch. Im Laufe des Tages wurde es zum Glück besser und die Sonne kam durch. Ein kurzes Vergnügen, aber sehr motivierend zwischen den Regen-Schnee-Schauern.

Es begann mit einem offiziellen Besuch beim Direktor der Universität Pskov, die unser Partner ist. Sehr gediegen, sehr wohl gewählte Worte, sehr kurz.

Das Gebäude ist sehr imposant. Mit großen Säulen im klassizistischen Stil am zentralen Leninplatz gegenüber vom Kreml gelegen. Das nenne ich repräsentativ. Die Grundsubstanz ist sehr gut, aber teilweise in einem renovierungsbedürftigen Zustand.

Nach der Universität ging es in das Kolleg, das ein Teil der Universität ist. Dieses ist im Angebot dem Berufskolleg Eschweiler sehr ähnlich. Wir haben eine Architektur-Klasse besucht, deren Arbeiten sehr beeindruckend waren. Wahrscheinlich werden wir die Partnerschaft von Studenten eher auf Kolleg-Schüler verändern.

Computer, Drucker und anderes Equipment sind auf neuem Stand, aber die Gebäude sind angegriffen. Die Laborausstattungen sind wesentlich älter als unsere. Die Menschen sind aber sehr freundlich und uns gegenüber sehr positiv gesinnt.

Wir haben so einiges über das Kolleg erfahren und einiges über uns erzählt. Jeder hat sich von seiner besten Seite präsentiert und die Leichen im Keller gelassen.

Das Essen in der Mensa mit Fleischsalat, Borschtsch, geschmortem Fleisch mit Kartoffeln und kleinen Puddingteilchen war sehr gut und ist für viele Studenten kostenlos.

In allen Gebäuden, wie auch hier im Wohnheim, sind immer Pförtner oder ähnliche Empfangsdamen am Eingang, die jeden Besucher registrieren.

Der zweite Weltkrieg ist allgegenwärtig. Viele Denkmäler und Plakate erinnern an den großen Sieg über Deutschland. Diese Gegenwart des Krieges bis 45 und der Kriege danach ist für uns im friedlichen Deutschland heute unvorstellbar. Selbst die Einsätze in Afghanistan, auf dem Balkan und am Horn von Afrika spielen in unserer Wahrnehmung keine Rolle, aber Russland war und fühlt sich im Krieg.

Es folgte eine Russischstunde mit zwei Studentinnen, bevor Schüler und Lehrer zu ihren verschiedenen Abendveranstaltungen in privater Atmosphäre aufbrachen.

Dienstag, 21. April 2015

Der heutige Tag begann sehr entspannt mit einer Schwimmstunde für die Schülerinnen und Schüler. In den festen Bahnen durfte man schwimmen und alle 30 Minuten wurde man aufgefordert, das Bad jetzt zu verlassen.

Danach haben wir etwas sehr Bewegendes gesehen: das Heilpädagogische Zentrum von Pskov. Hier werden 40 Kinder und Jugendliche mit mehrfachen schweren Behinderungen in 4 Jahrgängen mit je 2 Klassen betreut. In jeder Klasse sind 5 Schüler mit 2 Erzieherinnen und 2 Lehrerinnen. Das Zentrum wurde 1993 auf Initiative der Eltern schwerstbehinderter Kinder mit Geld und Hilfe eines Unterstützungsvereins aus Heinsberg gegründet. Es war damals das erste Heilpädagogische Institut für diese Kinder in Russland – und ist es bis heute geblieben. In ganz Russland gibt es keine zweite Fördereinrichtung für schwerstbehinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie werden sonst in Internaten untergebracht, in denen sie den ganzen Tag in kleinen Zimmern sitzen ohne eine Beschäftigung!

Seit 2010 sind Werkstätten angegliedert, in denen die erwachsenen Schüler arbeiten können. In einer Näherei, einer Papier- und Holzwerkstatt sowie im Garten werden viele Produkte für den Verkauf in Pskov und Deutschland produziert. Alles sehr professionell aber nicht kostendeckend.

Am Donnerstag vor zwei Wochen bekam der Leiter des Zentrums einen Anruf aus Deutschland, ob sie 3.000 Pskover Engel (aus Holz) für die Gäste des Staatsaktes zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes in den Alpen im Kölner Dom fertigen könnten. In 5 Tagen schafften sie das und eine Mitarbeiterin brachte die 3.000 Engel in zwei Koffern nach Köln. Ein Geschenk für jeden Besucher der Messe.

Das Mittagessen in der Mensa war einmal mehr sehr gut und sehr reichhaltig. In einem kalten Land muss man nicht hungern. Einige russische Studenten gestalteten danach ein Seminar für uns zu russischen Traditionen und Bräuchen, die uns so klarer wurden. Die PowerPoint-Präsentationen waren wie von unseren Schülern, informativ und charmant. Wir konnten sogar Kalinka mitsingen.

Nach einer kurzen Pause ging es vor dem Abendessen zum Denkmal für die 86 gefallenen Fallschirmjäger. Sehr beeindruckend. Die Kriegsdenkmäler sind wirklich alle sehr beeindruckend und voller echtem Pathos. Meterhohe Metalllichter, die einen offenen Fallschirm mit den Unterschriften der Gefallenen erleuchten, stehen auf der aufgewühlten Erde des Krieges.

Mittwoch, 22. April 2015

Der Morgen war noch sehr entspannt mit Geldtausch und Russischunterricht. Die Studentinnen haben das sehr gut gemacht. Das anschließende Seminar zum Rechtsextremismus in Deutschland und Russland war informativ, auch wenn die Vorträge noch Potential haben. Der Wille zählt!

Das Essen in der Mensa war wie immer schnell, sehr reichhaltig und gut. Besonders das Gebäck zum Tee ist hier berühmt. Schön ist es, dass sich russische und deutsche Kantinen darin einig sind, dass Brot NIEMALS frisch auf den Tisch kommen darf. Es MUSS mindestens 3 Tage alt sein. Das sind Heimatgefühle, die sich beim Kauen ergeben.

Der Besuch der stellvertretenden Bürgermeisterin war eines der High-Lights der Reise. Diese fragte nach, wollte keine Lobhudelei und nahm sehr persönlich Stellung zur Sicht auf Russland in der Welt durch den Ukraine-Konflikt. Wir sollten einige Wahrheiten überdenken. Diese Frau hat Mut und Courage in jeder Form. Diese Frau kann begeistern und Menschen überzeugen. Statt Dinge totzuschweigen geht sie sehr offensiv mit allem um. Davon können ALLE Politiker weltweit etwas lernen.

Das anschließende Interview mit einer Studentin für einen Zeitungsartikel wurde sehr versiert geführt und einer unserer Schüler war von ihr so begeistert, dass sie sich abends mit zur Abschiedsfeier der Schülerinnen und Schüler eingeladen hat. Das ist Völkerverständigung.

Die Abschlussfeier in der Mensa war wieder einmal mehr eine kulinarische Herausforderung.

Donnerstag, 23. April 2015

6 Uhr aufstehen, 7 Uhr Abfahrt: In einem engen kleinen Bus (Gepäck in einem separaten Fahrzeug) geht es nach St. Petersburg.

Das Wetter hätte besser sein können, denn Schneefall, kalter Wind und nur wenige Grad über Null sind auch in St. Petersburg keine Freude. Deshalb haben wir, nach einem Mittagessen in einem russischen Schnellrestaurant, eine Bus-Stadtrundfahrt gemacht. Die Stadt ist wirklich sehr, sehr schön. Viele alte Bauten, ein unmöglicher Verkehr, viele, viele Touristen und ein tolles Flair. Im Sommer ist das bestimmt noch besser.

Die Geschäfte schwanken zwischen russisch und westlich. Die Preise sind immer westlich mit Aufschlag. Zum Teil Faktor 3. Absolut sehenswert war das alte Café Singer (nach der Nähmaschinen-Familie benannt), das wie ein altes Wiener Café ist.

Danach sind wir noch in den Dom von St. Petersburg, in dem die bedeutendste Ikone Russland zu sehen ist. Viele Menschen standen Schlange davor und wie jede orthodoxe Kirche war auch diese sehr, sehr prächtig. In der Sowjetzeit war der Dom ein atheistisches Museum, wie viele Kirchen. Jetzt ist man da entspannter. Ich denke, auch von Dauer, denn der Glaube ist in weiten Teilen der Gesellschaft tief verwurzelt, trotz Sowjetzeit!

Freitag, 24. April 2015

Heute war der Tag der Rückreise. Schlafen, Frühstück, Kofferpacken, Fahrt zum Flughafen. Die meisten sind platt, ich auch. Manche erkunden noch einmal St. Petersburg.

Die Nacht war recht ruhig. Die Betten extrem weich, aber gut zum Schlafen. Das Hotel ist so verwinkelt in mehrere Wohnhäuser integriert, dass ich in einem rauf und in einem anderen wieder eine Etage hinab gehen muss, um zu meinem Zimmer zu kommen. In den alten Gebäuden werden die oberen Etagen sehr häufig für Hotels genutzt, da die Einheimischen nicht mehr in den oberen Etagen ohne Aufzug wohnen wollen. Insgesamt sind Aufzüge oder Rolltreppen in Privatgebäuden selten.

Die Fahrt zum Flughafen war einmal mehr nach Großstadtstandard – chaotisch, aber zum Glück nicht zu lang. Dafür dann Warterei am Flughafen, die uns mit dem Einlasssicherheitscheck, Check-In, Sicherheitscheck und Boarding verkürzt wurde.

Deutschland empfing uns mit warmen Wetter, unendlichen Wegen und einem lächelnden Grenzbeamten, der uns begrüßte und verabschiedete. Es war herrlich. Der Bus roch sauber, die Straßen waren ohne Schlaglöcher. Es ist schön wieder zuhause zu sein.